Homepage    |  Inhaltsverzeichnis - Contents
am 6.7.2000 vom Deutschen Bundestag einstimmig beschlossen:

„Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“



Betreff: Bundestag will Bleiberecht für Kriegsflüchtlinge
Datum: Sat, 08 Jul 2000 22:11:33 +0200
Von: Georg Classen ...
 
Der Bundestag hat am späten Donnerstag abend der Initiative von Abgeordneten der CDU, SPD, FDP und der Grünen zum Bleiberecht für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Bosnien und dem Kosovo einstimmig zugestimmt.

Anbei


********

Frankfurter Rundschau 8.7.2000
Ausländerpolitik

Bundestag will Bleiberecht für Kriegsflüchtlinge

vgo BERLIN, 7. Juli. Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen haben die Bundesregierung in einem einstimmig gefassten Beschluss aufgefordert, Abschiebungen bestimmter Flüchtlinge aus Bosnien und Kosovo zu stoppen. Traumatisierten Flüchtlingen, allein stehenden Alten, Müttern mit Kleinkindern und allein reisenden minderjährigen Flüchtlingen solle aus humanitären Gründen ein dauerhaftes Bleiberecht zugesichert werden. Auch Angehörige von Minderheiten und in Deutschland aufgewachsene Jugendliche sollten von Abschiebungen ausgenommen sein, beschlossen die Abgeordneten.
     Der ungewöhnlich einhellige Beschluss ging auf einen von Christian Schwarz-Schilling (CDU) initiierten Gruppenantrag zurück, dem sich 230 Abgeordnete angeschlossen hatten. Unterzeichner waren neben Parlamentariern von SPD, FDP und Grünen auch prominente Unionsabgeordnete wie Volker Rühe und der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze.
     Der Beschluss ist für die Abschiebungspraxis der Länder nicht bindend. Er verpflichtet jedoch den Bundesinnenminister, sich auf der Innenministerkonferenz für ein Bleiberecht für die genannten Flüchtlingsgruppen einzusetzen und auch bereits ergangene Ausreiseaufforderungen zu widerrufen. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD), Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, erklärte, es könne kein pauschales Bleiberecht für Behinderte, Kranke und Jugendliche geben. Damit werde das geltende Ausländerrecht in Frage gestellt.

[ document info ] Copyright © Frankfurter Rundschau 2000  Dokument erstellt am 07.07.2000 um 21:04:01 Uhr Erscheinungsdatum 08.07.2000

*******
Deutscher Bundestag
14. Wahlperiode
Drucksache 14/3729
30.06.2000

Antrag

der Abgeordneten Dr. Christian Schwarz-Schilling, Heide Mattischeck, Claudia Roth (Augsburg), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ••••(sowie 226 weitere Abgeordnete)•••
 

Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Krieg und Genozid im ehemaligen Jugoslawien haben Anfang der 90er Jahre mehr als 350.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Bosnien und Herzegowina nach Deutschland gebracht. Es bestand Einigkeit, dass der Großteil nicht auf immer, sondern auf Zeit verbleiben sollte und, sowie es die Situation zuläßt, wieder in seine Heimat zurückkehren sollte. Die Rückkehr der Flüchtlinge, die ab 1996 einsetzte, ist von den Zahlen her beeindruckend. Über 300.000 sind aus Deutschland wieder ausgereist. Dabei gab es hervorragende Projekte und abgestimmte Maßnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, welche diese Rückkehr erleichtert haben.

Die Innenministerkonferenz hat sich größtenteils daran gehalten, dass sog. "Problemgruppen" vorerst nicht zur Ausreise aufgefordert werden. Die etwa 50.000 verbliebenen Bosnier gehören weitgehend dieser Gruppierung an. Die Innenminister haben zunächst "Problemfälle" von Flüchtlingen bei der Rückführung ausgenommen, z.B. dann, wenn es sich um Traumatisierte, ehemalige Lagerhäftlinge oder Zeugen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag handelte. Diese Personen sind jedoch seit kurzem ebenfalls von zwangsweiser Rückführung bedroht.

Auch die Rückkehr der Kosovo-Albaner, die teilweise weit vor der Zeit des Kosovo-Krieges als Gastarbeiter oder als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind, tritt jetzt in ein entscheidendes Stadium. Nach Ankündigungen der Innenminister von Bund und Ländern sollen ausreisepflichtige Personen bis zum Ende des Jahres in den Kosovo "zurückgeführt" werden, wobei mit zwangsweisen Rückführungen in größerem Umfang ab Frühjahr diesen Jahres begonnen werden soll. Ausgenommen werden sollen Angehörige bedrohter Minderheiten wie z.B. Serben, Roma und Aschkali.

Seit März/April diesen Jahres wird die überwiegende Mehrheit der heute "geduldeten" Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina oder aus dem Kosovo unterschiedslos aufgefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. In der Praxis wird auf die Zugehörigkeit zu einer bedrohten Minderheit nicht immer Rücksicht genommen. Unberücksichtigt bleibt auch die Frage, ob bei Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen die Rückkehr an den Ort der Verfolgungen zumutbar ist. Im Falle traumatisierter Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina werden z.T. sogar fachärztliche Beurteilungen durch pauschale amtsärztliche Beurteilungen der eigenen Behörden ersetzt; fachärztliche Diagnosen werden dadurch gegenstandslos.
 

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich - auch gegenüber den Bundesländern - dafür einzusetzen, dass gegenüber folgendem Personenkreis in Zukunft keine Ausreiseaufforderungen verbunden mit der Androhung der Abschiebung ausgesprochen werden, und falls bereits Ausreiseaufforderungen ergangen sind, diese widerrufen werden:

1. Behinderte, Kranke, alleinstehende Alte, Mütter mit Kleinkindern sowie unbegleitete Minderjährige

2. Traumatisierte mit fachärztlicher Beurteilung

3. Ehepaare, die verschiedenen Ethnien angehören und deshalb jetzt in ihrer früheren Heimat nicht gemeinsam leben können

4. Lagerinsassen, die während des Bürgerkriegs oder des Genozids inhaftiert waren

5. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die sich der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Aggressionen und Verbrechen entzogen haben

6. Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen, insbesondere des Haager Tribunals

7. Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind und die weitgehend integriert sind

sich einzusetzen, dass folgende Gruppen wegen der Verhältnisse vor Ort von den Ausreiseaufforderungen ausgenommen werden, sofern die Betroffenen nicht freiwillig zurückkehren wollen:

1. Minderheiten, deren Heimat früher oder erst heute mehrheitlich von einer anderen Ethnie bewohnt werden, die sich gegen die Rückkehr dieser heutigen Minderheit wehrt.

2. Roma und Aschkali, die überall Minderheit und fast überall Gejagte sind.

Im Rahmen einer Einzelfallprüfung, die mit den Behörden des Heimatlandes und den internationalen Organisationen vor Ort abgestimmt werden sollten, müssen aus unserer Sicht folgende Minimalkriterien berücksichtigt werden:

1. Die Sicherheit für Rückkehrwillige, die einer ethnischen/religiösen Minderheit angehören.

2. Die Sicherheit vor Minen.

3. Die Existenzmöglichkeit für die Person oder Familie, um ein Mindestmaß sozialer Überlebenschancen zu gewährleisten.

4. Der Zustand des Gebäudes im Heimatort, in das die Person zurückkehren soll bzw. geplante oder schon durchgeführte Rekonstruktionsprogramme.

Für Personen, die aus den oben genannten Gründen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können, müssen nach einer Einzelfallprüfung, die mit Kenntnis der tatsächlichen Sitation vor Ort erfolgen muss, Möglichkeiten für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesicherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden. Traumatisierte mit fachärztlicher Beurteilung, Lagerinsassen und integrierte Jugendliche sollten auch eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung bekommen. Insofern wird der Bundesinnenminister aufgefordert, die gegenwärtige Praxis der Innenminister der Länder durch die Möglichkeit eines dauerhaften Bleiberechts zu ergänzen, also entsprechende Empfehlungen in die Innenministerkofernez einzubringen. Auch sollte ihnen unverzüglich die Erwerbsmöglichkeit gestattet werden, die am stärksten zur Integration führt und insbesondere den jungen Menschen eine eigenständige Lebensperspektive bietet.

Berlin, den 30. Juni 2000

Dr. Christian Schwarz-Schilling, Heide Mattischeck, Claudia Roth (Augsburg), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ••••(sowie 226 weitere Abgeordnete)•••

*******

(Plenarprotokoll Deutscher Bundestag, Sitzung vom 6.7.2000, TOP 18:
Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten - Drucksache 14/3729)

Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Christian Schwarz-Schilling und weiteren Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Heide Mattischeck und weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg) und weiteren Abgeordneten der Fraktion BüNDNIS 90/DIE GRüNEN sowie der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Schnarrenberger und weiteren Abgeordneten der Fraktion der F.D.P.

Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten - Drucksache 14/3729 -

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist trotz der späten Stunde eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn Dr. Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten heute Morgen hier in diesem Saal eine sehr zu Herzen und zum Verstand gehende Aussprache über das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Wir haben dabei lernen können, was es bedeutet, wenn in einer Generation die Grundsätze der Menschenwürde und des Rechtsstaates weggeschoben werden und wie viele Generationen es braucht, um Leid, Unrecht und Schmerzen, die dadurch angerichtet wurden, wieder zu beseitigen, wobei wir alle wissen: Beseitigt werden können sie nie mehr. Das ist ein ganz komplexer Zusammenhang.

Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir alle gesagt: Wir wollen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt - nie wieder Konzentrationslager, nie wieder Unrecht und ähnliches mehr. 50 Jahre später brann te es in Europa wieder. Europa tat so, als ginge es das gar nichts an. Denn es handelte sich um eine Randregion Europas, den Balkan. Wir schauten weg; wir waren unbeteiligt, bis die Dinge so schlimm wurden und sich auch die Vereinigten Staaten entsprechend involvierten, dass wir dann begannen, uns damit zu beschäftigen.

Milosevic hat eine ganze Region mit einem Krieg überzogen und in einen Abgrund gestürzt. Nun sprachen wir alle vom "Bürgerkrieg". Zunächst einmal eine Feststellung: Das war kein normaler Krieg, das war kein Bürgerkrieg, sondern das war ein Krieg einer hoch gerüsteten Armee gegen die Zivilbevölkerung; nicht Bürger gegen Bürger, sondern die einen standen unter dem Befehl eines Diktators und die anderen waren wehrlose Bürger. Dies ist nach landläufiger Meinung kein Bürgerkrieg.

Männer wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt - im übrigen nicht nur aus Spaß, sondern aus ideologischem Axiom: Die Maxime - man kann die Gründe dafür schriftlich nachlesen - war, dass auf bosnischem Boden serbische Kinder geboren werden sollten. Es kam zu Folter und Tod. Es gab Lager, die man sich heute kaum schlimmer vorstellen kann. Es handelte sich um eiskalt geplanten Völkermord. 700 000 bis 800 000 Menschen flohen ins Ausland, davon circa 350 000 nach Deutschland. Circa 300 000 sind allein in Bosnien umgebracht worden. 1 Million Menschen wurde in Jugoslawien aus ihren Häusern gejagt, bevor sie gesprengt wurden. Da hatten sie dann noch Glück; denn bei vielen Menschen war es so, dass sie mit in die Luft gesprengt worden sind.

Heute vor fünf Jahren, am 6. Juli 1995, begann der Angriff auf die UN-Friedenszone Srebrenica. In diesen Tagen, vor genau fünf Jahren, war die Jagd auf 30 000 Menschen, auch Frauen mit Kindern, eröffnet. 8 000 bis 10 000 Männer wurden verschleppt und auf freiem Feld ermordet. Alle, die ermordet wurden, waren unbewaffnet. Denn die UN hatte ihnen in der so genannten Friedenszone alle Waffen abgenommen. Als es dann ernst wurde, ist die UN getürmt und einige, die noch da waren, guckten hilflos zu. Dieses Gemetzel war für diese Menschen die Hölle. Die Aufnahme der 350 000 Flüchtlinge bei uns in Deutschland war eine großartige Tat und vorbildlich für die ganze Welt. Bund und Länder haben sich daran beteiligt und alle Hilfe geleistet, die man leisten konnte. Vor allen Dingen unsere Bevölkerung war unglaublich ergriffen, spendete und half, wo es nur irgend möglich war. Später kam auch unsere Bundeswehr dazu und leistete Vorbildliches. Von daher können wir nur alle sagen, dass wir auch stolz sein können auf das, was Deutschland in diesen Jahren getan hat.

Dann kam der Friedensvertrag von Dayton, der in Paris unterschrieben worden ist. Er war zwar unvollkommen, aber sicherlich damals kaum anders zu machen. Denn die Mörder und Kriegsbrandstifter saßen mit am Tisch. Ein Friedensvertrag dieser Art ist meistens etwas schwierig und schief. Für manche deutsche Politiker war dies dennoch der Zeitpunkt, zu sagen, der Frieden sei da und nun sollten alle Flüchtlinge so schnell wie möglich hinaus. Die Abmachungen von Dayton sagten etwas anderes: Der UNHCR ist diejenige Organisation, die die Rückkehr der Flüchtlinge führend zu organisieren hat. Über die Rückkehr der Flüchtlinge wurde das Recht auf Heimat und auf Freiwilligkeit festgeschrieben. Es heißt dort im Artikel I des Annex 7:

All refugees and displaced persons have the right freely to return in their homes of origin.

Obwohl auch wir diesen Vertrag unterzeichnet haben, wurden diese Rechte der Flüchtlinge schon sehr bald nach Dayton einseitig außer Kraft gesetzt.

Wir sind uns dennoch einig gewesen, dass der größte Teil dieser Flüchtlinge nicht auf Dauer bei uns bleiben soll. Darüber gibt es gar keinen Dissens. Wir waren auch darüber einig, dass eine friedliche, gestaffelte Rückkehr in mehreren Phasen stattfinden soll. Auch darüber gab es keinen Dissens.

Aber jetzt kommt der dritte Punkt: Eine sensible Einzelfallprüfung bei Problemgruppen wie zum Beispiel Traumatisierten, Behinderten, Lagerinsassen, Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, wurde vom Innenminister, mit dem ich allein darüber seit anderthalb Jahren korrespondiere, zugesichert. Die Innenministerkonferenz sagte das Gleiche. Meine Damen und Herren, ich sage hier ganz klar: Zusagen dieser Art sind nicht eingehalten worden. Im Gegenteil: Seit Februar, März dieses Jahres erhalten diese Problemgruppen pauschal und ohne Differenzierung dieselben Ausreiseaufforderungen mit der Androhung von Zwangsmaßnahmen für den Fall, dass man Deutschland nicht bis zum angegebenen Zeitpunkt verlassen hat.

Meine Damen und Herren, so haben wir nicht gewettet. Ich muss ganz offen sagen: Wer für diese Problemgruppen nur eine Verzögerung der Ausreise vorgesehen hat und nicht bereit ist, für diese 8 Prozent der einstmals 350 000 Flüchtlinge eine sensible Einzelfallregelung zu treffen, wer meint, diese Flüchtlinge seien nun lange genug bei uns gewesen und sollten nun genauso wie die anderen nach Hause geschickt werden, der hält seine Zusagen nicht ein.

(Beifall im ganzen Hause)

Aus diesen Gründen liegen sehr viele geradezu tragische Einzelfälle auf den Tischen der Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages. Ich möchte nur zwei Fälle nennen. Ich könnte Ihnen hundert Fälle nennen; bei mir kommen jeden Tag ungefähr fünf Fälle auf den Schreibtisch - eine Aufgabe, die ich fast nicht mehr lösen kann.

Die Familie Isovic aus Bosanski Brod, Republika Srpska, kam 1993 nach Deutschland und lebt jetzt in München. Eine Tochter ist in der Zwischenzeit in die USA ausgewandert. Herr Isovic hat sich in Deutschland nur wegen schwerer Verletzungen als Soldat in der Armee behandeln lassen. Seine Frau und die Tochter - sie war damals 14 Jahre alt - waren im KZ Bosanski Brod, einem berüchtigten Lager in der Heimatstadt dieser Familie. Sie wurden dort mehrere Wochen vergewaltigt und gefoltert. Sie haben sich in Deutschland nicht als traumatisierte Personen behandeln lassen, weil sie, wie sie mir später gesagt haben, gehofft und gedacht haben, dass sie die schrecklichen Erinnerungen durch Arbeit und Beschäftigung - die Eltern waren beide in Lohn und Brot - besser vergessen könnten.

Erst nach der Abschiebungsdrohung im Februar dieses Jahres hat das nicht behandelte Trauma eine schlimme Entwicklung genommen. Es gab einen Selbstmordversuch der Mutter. Herr Isovic, der selber in eine furchtbare Situation geraten ist, erzählte mir, wie er, als er in seine damals noch unbeschädigte Wohnung kam, den Kopf seiner Mutter in einer Tüte im Kühlschrank gefunden hat. Das ist für sie die Heimatstadt Bosanski Brod.

Diese Familie ist jetzt hier. Das Ehepaar hat natürlich den Fehler begangen, sein Trauma nicht sofort behandeln zu lassen. Es ist jetzt in psychotherapeutischer Behandlung. Der Vater hat gesagt: Er wird nur tot zurück nach Bosnien gehen. Er wird niemals zu den Tätern nach Bosanski Brod zurückkehren.

Wir kennen die Situation aus dem Zweiten Weltkrieg und wissen, dass Menschen, die die Konzentrationslager überlebt haben, über Jahrzehnte hinweg gesagt haben: Wir werden nie wieder nach Deutschland kommen. Manche haben das bis heute so gehalten, bei anderen hat sich das gelöst. Eigentlich müsste so etwas bei uns bekannt sein. Wir müssten doch wissen, was in diesen Menschen vor sich geht.

Nein, diese Menschen werden vorgeführt, manchmal sogar in Handschellen zu Polizeiordnungsdiensten, die eine ärztliche Beurteilung abgeben sollen. So etwas hat es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. In keinem Land wurden ehemalige Emigranten in irgendeiner Weise vorgeführt und wieder zurückgeschickt.

Meine Damen und Herren, es gibt noch einen zweiten Fall, den ich kurz erwähnen will. Eine fünfzehnjährige Stumme lebt in Sachsen-Anhalt in Möckern, im Landkreis Jerichower Land, und  lernt dort seit sechs Jahren in der Taubstummenschule deutsch. Was konnte sie denn sonst lernen? Sie kann nur kommunizieren, wenn sie die Mundstellungen des Gegenübers beobachten kann. Ganz abgesehen davon, dass die Eltern nicht aus Sarajewo stammen, wurde gesagt, es gibt auch in Sarajewo eine Taubstummenschule, dorthin kann sie gehen. Es wurde überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Sprachkenntnis notwendig ist, um an dieser Schule jemals kommunizieren zu können. Jetzt müssen wir auf Ministerpräsident Höppner, der gerade in den USA weilt, warten, um das Schlimmste zu verhindern. "Wir müssen eine politische Lösung finden."

Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den ich am Schluss ansprechen möchte. Es gibt jetzt nicht mehr viele Flüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, die jetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sie nicht in Angst und Panik versetzen. Diese Menschen haben aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht, in Frieden zu leben, wie auch wir. (Beifall im ganzen Hause)

Wir verscherzen jetzt unsere gute Reputation; denn wir hatten 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt leben noch 35 000 bei uns. In Österreich haben 67 000 ein Bleiberecht bekommen. In Schweden sind es 53 000 Menschen, die ein Bleiberecht bekommen haben. Die USA haben bis zu 140 000 aufgenommen. Im Vergleich mit der Bevölkerungszahl sind das mehr, als die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat. Wir können jetzt nicht mehr sagen, wir haben die meisten, denn das hat sich geändert. Auch die Stimmung der Welt gegenüber Deutschland hat sich geändert. Lassen Sie mich zwei Dinge ganz klar sagen. Unser Grundgesetz sagt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. ... Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. ... Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Gilt so etwas für einen Menschen, der seit acht Jahren hier lebt, nur deshalb nicht, weil er einer anderen Heimat, einem anderen Volk entstammt? Nach dem Grundgesetz gilt es für jeden und nicht nur für einen Deutschen. Das muss man endlich wissen.

Das Zweite: Das Ausländergesetz nennt durchaus Möglichkeiten. Warum werden diese nicht genutzt? Das Ausländergesetz sagt in i 54, Aussetzungen von Abschiebungen:

Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten ... für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt wird. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, wenn die Abschiebung länger als sechs Monate ausgesetzt werden soll.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, ich muss jetzt doch auf die Redezeit achten.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Warum macht der Innenminister nicht von sich aus das Angebot an die Länder? Wir haben ein Einvernehmen, wenn wir bei diesen Problemfällen weit über sechs Monate hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir eine Bleiberegelung getroffen haben, nicht abschieben. Das wäre eine Initiative. Sie fällt auch in seinen Zuständigkeitsbereich. Er hat sich ebenso wie die Länder in der letzten Zeit sehr bewegt. Ich möchte nur sagen: Es nützt alles nichts, wenn wir im Dezember eine Regelung haben und Hunderte oder Tausende vorher in die jetzt dort vorherrschenden Verhältnisse abgeschoben werden. Ich könnte Ihnen zig Fälle nennen, die so dramatisch sind wie die gerade geschilderten. Wenn sie ausreisen müssen, wird ihr Leben, ihre Familie zerstört. Das sollten wir verhindern, denn unsere Generation sollte das Recht, die Menschenwürde und all das, wofür unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft haben, verteidigen. Genauso müssen wir uns auch gegenüber anderen Ländern verhalten, wenn es nötig ist. Denn Menschenrechte durchbrechen auch Landesgrenzen; wie wir auch gegenüber den Nationen sagen, dass dies keine innere Angelegenheit der Nationen ist.

Menschenrechte sind für die ganze Bundesrepublik Deutschland da.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Sie sind damit einverstanden gewesen, dass ich die Redezeit in diesem Fall verlängert habe, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denn wir wollten Ihre eindrucksvolle Rede gern hören. Wir sind stolz darauf, dass wir dieses Thema heute Abend noch in dieser eindrucksvollen Weise behandeln können. Auch die nachfolgenden Redner würden wahrscheinlich gern noch länger reden, als es die Redezeit erlaubt, aber ich bitte Sie, sich daran zu halten. In diesem Sinne hat die Kollegin Heide Mattischeck das Wort.

Heide Mattischeck (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte meinen kurzen - ich werde mich an die Redezeit halten - Redebeitrag damit beginnen, noch einmal all denen Dank zu sagen, die in den letzten Jahren den 350 000 Flüchtlingen und Vertriebenen aus Bosnien und Herzegowina in unserem Land Zuflucht und Aufnahme gewährt haben: dem Bund, den Ländern, den Kommunen, vor allen Dingen aber den vielen Menschen, die sich zum Teil in vorbildlicher Weise ganz persönlich um diese Menschen gekümmert haben, die vor dem schrecklichen Krieg und dem Genozid in ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben worden sind.

(Beifall im ganzen Hause)

Der Dank gilt auch den vielen Flüchtlingsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, die sich dieser Not leidenden und gequälten Menschen angenommen und diese vielfältig unterstützt haben. 300 000 Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie sind dabei, die Trümmer wegzuräumen, sich eine neue Existenz aufzubauen, ihr Land wieder in Ordnung zu bringen. Welch schwere Aufgabe das ist, wissen wir, wenn wir es wollen. Sie brauchen aber noch lange internationale Unterstützung. Auch dies wissen wir. Die noch verbliebenen Flüchtlinge gehören weitgehend den Problemgruppen an, die wir in unserem Antrag beschrieben haben, die zunächst von einer Rückführung ausgenommen werden sollten. Seit dem Frühjahr dieses Jahres - dies war auch der Grund für unsere Initiative - werden diese Personen weitgehend unterschiedslos aufgefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. Wer ist nicht schon in seinem oder ihrem Wahlkreis von solchen Personen angesprochen oder angeschrieben worden? Wir wissen, wie hilflos wir dann oft reagieren müssen.

Wir wissen allerdings auch - dies haben wir in der letzten Woche auch von dem UNHCR-Vertreter bei einer Podiumsdiskussion gehört -, dass es in den Bundesländern durchaus unterschiedliche Herangehensweisen gibt. Hier nenne ich Nordrhein-Westfalen und auch Schleswig-Holstein, die mit Flüchtlingen unterschiedlich umgehen, die zum Kreis der im Antrag genannten gehören. Mit unserem Osterappell, den zu unserer Freude und Überraschung ganz spontan 100 Abgeordnete unterschrieben haben, wollten wir einen neuen Denkanstoß geben, die begonnene Zwangsrückführung von Traumatisierten, von Alten und Kranken, von Müttern mit kleinen Kindern, von ethnisch gemischten Ehepaaren einzustellen. An dieser Stelle erlaube ich mir, auf die besondere Hartnäckigkeit des Kollegen Schwarz-Schilling in dieser Sache hinzuweisen und mich dafür auch zu bedanken.

(Beifall bei der SPD, dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das öffentliche Echo auf den Osterappell - das haben Sie sicher alle zur Kenntnis genommen - war durchweg positiv. Dies hat uns ermutigt, diesen Gruppenantrag einzubringen. Ermutigt hat uns - das will ich an dieser Stelle auch sagen - die Unterstützung von Hans Koschnick und auch die Rede vom Bundespräsidenten Johannes Rau. Johannes Rau sagte in seiner viel beachteten Rede über Einwanderung und Asyl, dass es zum einen Menschen gibt, die wir hier bei uns brauchen und brauchen werden, die wir einladen, zu uns zu kommen, und solche, die uns brauchen. Zu der letzten Kategorie gehören weitgehend jene, von denen wir heute sprechen. Einige, wenn auch wenige, gehören allerdings durchaus auch zu denen, die wir dringend brauchen. Ich denke da zum Beispiel an eine Frau aus Bosnien, um deren Verbleib in Deutschland sich der Inhaber einer Änderungsschneiderei in meinem Wahlkreis händeringend bemüht; denn er findet sonst niemanden.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass circa 225 Abgeordnete den Antrag unterschrieben haben, macht deutlich, dass es für dieses Anliegen eine breite Unterstützung im Deutschen Bundestag gibt. Ich bin sehr froh darüber, dass Innenminister Schily sich eindeutig dafür ausgesprochen hat, für den Personen kreis der Traumatisierten den gesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen. So viel Deutschland für die Flüchtlinge getan hat, so großherzig sollten wir jetzt mit denen umgehen, die dieser schreckliche Krieg am stärksten und wohl auch dauerhaft betroffen und beschädigt hat.

(Beifall bei der SPD, dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN und der CDU/CSU)

Wir sollten zur Kenntnis nehmen - der Kollege Schwarz-Schilling hat schon darauf hingewiesen -, dass Österreich 65 000, Schweden 53 000 und Dänemark 27 000 Bosnier und Bosnierinnen dauerhaft aufnimmt. In den USA - auch das wurde gesagt - haben bereits 140 000 Männer und Frauen aus Bosnien Aufnahme gefunden. Ich denke, wir sollten uns davon nicht beschämen lassen.

Wir fordern in unserem Antrag mit den vielen Unterschriften kein neues Gesetz; wir fordern auch keine Gesetzesänderung. Wir bringen darin unsere Erwartung zum Ausdruck, im Rahmen bestehender Gesetze und unter Berücksichtigung auch der Genfer Konvention alles zu unternehmen, damit dem betroffenen Personenkreis keine Ausreiseaufforderung, verbunden mit Abschiebungsdrohung, ausgesprochen wird. Sollte dies schon geschehen sein, dann sollte sie widerrufen werden.

Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass die ausführenden Ausländerbehörden das Votum des höchsten Souveräns in unserem Lande - ich gehe davon aus, dass die Abstimmung heute positiv verlaufen wird - zur Kenntnis nehmen, respektieren und danach handeln.

(Beifall bei der SPD, dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen von Einzelfallprüfungen Minimalkriterien angewendet werden und dass für diesen Personenkreis, von dem wir heute sprechen, Möglich keiten auch für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesicherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns das gelingen wird, und bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich dafür, dass wir hier heute Abend eine so breite Unterstützung finden.

Danke schön.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Schwarz-Schilling, Sie haben als Kenner der Region wirklich treffend, überzeugend und ergreifend die Entwicklung und auch die Situation der derzeit noch in Deutschland verbleibenden Flüchtlinge geschildert. Deshalb darf für uns in dieser Debatte nicht der Satz gelten, der die Ausländerpolitik derzeit mitbestimmt, nämlich: Wir wollen die Menschen aufnehmen, die uns nützen, und nicht die Menschen, die uns ausnutzen. - Dieser Satz galt für uns, die Initiatoren dieses Antrages, nicht, denn wir wollen gerade, dass es in der Flüchtlingspolitik einen anderen Tenor gibt.

Wir wollen erreichen - niemand besser als Herr Schwarz-Schilling hat uns das mit zwei Beispielen vor Augen geführt -, dass die zum Teil völlig perspektivlose Situation von einer bestimmten Gruppe von Bürger-kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ernst genommen wird. Es handelt sich um Einzelschicksale. Wir wollen erreichen, dass sich nicht nur Bürgermeister aller Parteien vor Ort an uns als Parlamentarier wenden mit dem Ziel einer Aufschiebung der gesetzten Ausreisefrist, einer Verlängerung der Duldung für eine Familie mit Kindern, sondern dass dies hier, wo es hingehört, im Bundestag debattiert und auch von der Bundesregierung aufgegriffen wird.

Wir wollen, dass die Möglichkeiten des Ausländerrechtes für die traumatisierten Flüchtlinge, für die Lagerinsassen, für die Kriegsdienstverweigerer und für die Deserteure, für Mütter oder Väter allein mit Kleinkindern und für unbegleitete Minderjährige ausgeschöpft werden.

So wie es innerhalb kürzester Zeit möglich gewesen ist, mit der Blue Card in Bayern die Einwanderung von Facharbeitskräften aus einem bestimmten Bereich ausländerrechtlich großzügig zu regeln, so ist es auch ohne Problem möglich, diesen Personengruppen, die zudem zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen, einen verfestigten Aufenthaltsstatus nach dem geltenden Ausländerrecht zu geben. Dadurch kann ihnen Sicherheit gegeben werden, sodass sie nicht von einer Fristsetzung zur nächsten leben müssen und möglicherweise Familien auseinandergerissen werden müssen.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN)

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Gruppenantrages beantragen ausdrücklich keine Änderung des Ausländergesetzes. Es ist kein Gesetzentwurf. Wir wollen die politische Entscheidung, dass das Ausländerrecht ausgeschöpft wird, dass nach dem Ausländerrecht nicht nur eine befristete Duldung erteilt wird, sondern ein verfestigter Aufenthaltsstatus. Dass das möglich ist, zeigt schon die von uns zu begrüßende Bewegung des Bundesinnenministers, was die traumatisierten Flüchtlinge angeht. In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir ein Wort zu der speziellen Berliner Situation. Nach der Praxis des Berliner Innensenates werden fast alle Kriegsflüchtlinge aus Bosnien, denen anerkannte Fachärzte in Deutschland eine Traumatisierung bescheinigt haben, seit dem Frühjahr 1999 pauschal aufgrund von Anweisungen von Polizeiärzten noch einmal begutachtet. Diese Gutachten und auch ärztliche Bewertungen stehen häufig nicht in Übereinstimmung mit internationalen Qualitätsstandards. Dies ist - so haben es auch Verwaltungsgerichte in Berlin festgestellt - eine rechtswidrige Praxis. Sie traumatisiert diese Flüchtlinge zusätzlich.

Wir wollen, dass hiervon ein Signal ausgeht, dass diese Praxis beendet wird. Die Innenministerkonferenz wird diese Beendigung auf ihrer nächsten Tagung beraten und hoffentlich beschließen.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN)

Deshalb - ich habe nur eine sehr kurze Redezeit - bitte ich Sie, diesen Gruppenantrag zu unterstützen; denn er enthält nur Selbstverständliches zum geltenden Ausländerrecht.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BüNDNIS 90/DIE GRüNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Osterappell und der jetzt von 230 Kolleginnen und Kollegen unterschriebene Gruppenantrag ist für mich ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Dieses Ereignis bewegt mich tief, weil es für die Menschenrechte in unserem Land enorm wichtig ist.

Unsere Debatte heute Abend hat etwas von einer Sternstunde, nicht weil es schon so entsetzlich spät ist.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Gleich ist es wieder ganz früh.

Claudia Roth (Augsburg) (BüNDNIS 90/DIE GRüNEN): Vielmehr ist diese politisch parlamentarische Initiative, die, wie ich erwarte, positive Änderungen mit sich bringen wird, für unsere Glaubwürdigkeit wichtig. Glaubwürdigkeit bemisst sich am Umgang mit denen, die verfolgt, die vertrieben, die Opfer von ganz schrecklichen Verbrechen geworden sind und die bei uns Hilfe und Zuflucht gesucht und vielerorts gefunden haben. Denen soll jetzt genau dieser für ihr Leben und für ihre Zukunft nötige Schutz entzogen oder verweigert werden.

Die 230 Abgeordneten sind vielleicht die bisher größte überparteiliche parlamentarische Menschenrechtsgruppe für die Beachtung humanitärer Grundsätze in der Flüchtlingspolitik. 230 Abgeordnete mischen sich im allerbesten Sinne ein und formulieren mit diesem Antrag deutliche Kritik an der menschenrechtlichen Realität in unserm Land. Sie schließen nicht die Augen, sie schauen nicht weg, sie schweigen nicht, sondern sie leisten damit demokratischen Widerstand gegen die Entrechtung des Rechts von Flüchtlingen, gegen Ruck-zuck-Abschiebungen in eine völlig unsichere Zukunft. Bayern geht übrigens mit besonders gnadenlosem Beispiel voran. Denn jetzt werden in Bayern selbst ehemalige Lagerhäftlinge in einer wahren Abschiebewut von Abschiebungen nicht ausgenommen. 230 Kolleginnen und Kollegen formulieren ihren Widerspruch gegen rigorose und unzumutbare Härte und einen unmenschlichen Umgang mit Schutzbedürftigen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass in Berlin, wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausgeführt hat, traumatisierte Flüchtlinge in Berlin in Handschellen zu polizeiärztlichen Gutachtern geführt werden. Ich bin froh und stolz, dass es gelungen ist, über Parteigrenzen hinweg ein Bündnis für mehr Humanität zu schließen und als Deutscher Bundestag die Bundesregierung aufzufordern, von den Bundesländern das einzufordern, was seit langem und zu Recht von Kirchen, von Wohlfahrtsverbänden, von vielen Unternehmen, von Flüchtlingsorganisationen und von Mitbürgern, die uns in unzähligen Briefen um Unterstützung in Einzelschicksalen bitten, eingefordert wird.

Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, die Logik der Debatte endlich umzudrehen und die Schutzgewährung wieder in den Vordergrund zu stellen,

(Beifall im ganzen Hause)

anstatt bürokratische und kalte Erlasse zu exerzieren, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation in den Herkunftsländern oder auf die Realität, die Angst und die Sorgen der Betroffenen zu nehmen.

Es braucht einen differenzierten Umgang mit spezifischen Gruppen, die nicht oder noch nicht zurückkehren können. Dabei handelt es sich, wie schon angesprochen worden ist, um allein stehende, alte, traumatisierte und behinderte Menschen sowie um ethnische Minderheiten wie Roma und Askali. Es handelt sich um Menschen, deren Häuser zerstört sind und die beim besten Willen nicht ins Nichts zurückkehren können.

Wir brauchen eine gewissenhafte Einzelfallprüfung und wir brauchen die Gewährung von Bleiberecht für zum Beispiel junge Menschen, die faktisch in unsere Gesellschaft integriert sind. Problemfälle - das sind die etwa 50 000 noch verbliebenen Bosnier - sind kein Problem für unsere Gesellschaft. Sie haben existenzielle Probleme, bei deren Lösung wir ihnen helfen müssen.

Würden zum Beispiel traumatisierte Frauen jetzt zwangsweise abgeschoben werden, würde ihnen eine Retraumatisierung drohen. Ganz abgesehen davon gibt es in Bosnien keine Möglichkeit, die Behandlung adäquat fortzusetzen. Von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen ist daher purer Hohn.

(Beifall beim BüNDNIS 90/DIE GRüNEN, bei der SPD und der PDS)

Tatsache ist, dass massiver Ausreisedruck ausgeübt wird, ohne die Kritik von allen Hilfsorganisationen ernst zu nehmen. Im Menschenrechtsausschuss haben alle Hilfsorganisationen auf die Situation im Herkunftsland hingewiesen. Es wird keine Rücksicht auf die Bitten von UNMIK und UNHCR genommen, die ernsthaft davor warnen, dass eine unkoordinierte und überstürzte Rückführung von Menschen zum Beispiel in den Kosovo eine Destabilisierung mit sich bringen würde.

Ich erwarte, dass unser Beschluss etwas bewirken wird und nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich erwarte, dass die Abgestumpftheit der Politik beendet wird und dass sich mancher Innenminister darauf besinnt - wie es unser Kollege Schwarz- Schilling gesagt hat -, was unser Grundgesetz zum Ausdruck bringt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist unser moralischer Imperativ, das ist unsere historische Verantwortung, die sich im Umgang mit den Menschenrechten zeigen muss.

Es geht nicht nur um das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen, es geht vor allem um die Stärke unserer Demokratie. Stark ist ein starker Staat nur dann, wenn er die Schwachen schützt und ihnen das gewährt, was sie brauchen, nämlich Leben und Zukunft. Unsere Initiative ist also auch ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie in Deutschland.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als mir dieser Antrag von einigen meiner Kollegen zur Unterschrift vorgelegt wurde, dachte ich, dieser Antrag hätte etwas Besonderes sein können. Ich dachte, Abgeordnete aus allen Parteien des Deutschen Bundestages hätten sich für Menschen eingesetzt, die in einer Notsituation stehen. Damit wäre der Antrag geradezu ein Lichtblick in der aktuellen Einwanderungsdiskussion geworden. Es geht hier nämlich nicht um die Frage der Nützlichkeit von Menschen, sondern um die bedrohliche Lage von Menschen. Herr Schwarz-Schilling, ich habe großen Respekt vor Ihnen bezüglich der Rede, die Sie heute gehalten haben. Wenn ich mich hier umschaue, so sehe ich keinen einzigen Kollegen Ihrer Fraktion, der dem Innenausschuss angehört. Denn sie sind diejenigen, die in den letzten Monaten und Jahren immer wieder blockiert haben. Dadurch ist es zu der Abschiebepolitik gekommen, die Sie heute kritisiert haben.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diese Debatte beschämt mich deshalb, weil ich in den letzten Wochen und Monaten viele Anträge und Anfragen zu diesen Problemen gestellt habe. Ich möchte hier deutlich sagen, dass ich es nicht gut finde, dass man bei einer solchen Frage nicht in der Lage war, PDS-Abgeordnete bei diesem Antrag einzubeziehen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BüNDNISSES 90/DIE GRüNEN)

Dies ist ein wichtiger Antrag, der in die richtige Richtung geht. Auch ich bin der Meinung, dass Behinderte, Kranke, alte Menschen, Traumatisierte und Angehörige bestimmter Ethnien nicht abgeschoben werden dürfen und dass eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfinden muss. Mit diesem Appell würde der Bundestag ein Zeichen setzen, dass die gegenwärtige Abschiebepolitik so nicht fortgesetzt werden kann.

Auch ich nenne das Beispiel einer kurdischen Familie, die gerade in das Kirchenasyl gegangen ist. Die Frau wurde vergewaltigt. Sie war schwanger und verlor ihr Kind. Die Ausländerbehörde verlangt trotzdem, obwohl die Frau traumatisiert ist, dass sie das Land verlässt.

Dieser Antrag kann nur ein Appell sein. Wir sind der Meinung, dass der Schutz von Kranken und Traumatisierten vor Abschiebung nicht im Belieben der Ausländerbehörde liegen darf. Wir müssen - das hat auch Herr Schwarz-Schilling angesprochen - § 53 Abs. 4 des Ausländergesetzes neu formulieren, und zwar so, dass die Europäische Menschenrechtskonvention entsprechend der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei der Entscheidung über eine Abschiebung beachtet werden muss. Wir werden einen solchen Antrag erarbeiten und vorlegen, damit das Abschieben nicht im Belieben der Ausländerbehörde liegt. Wir werden diesem Appell zustimmen. Ich wünsche mir aber einen anderen Umgang mit Abgeordneten, die sich gerade bei solchen Fragen engagiert eingesetzt haben. Danke.

(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschen schade, dass am Schluss dieser Debatte noch ein parteipolitisches Gegeneinander aufgekommen ist, die eigentlich so wohltuend ungewöhnlich verlaufen ist. Ich finde es schon eindrucksvoll, dass so viele Namen aus den unterschiedlichen politischen Lagern vereint auf einem Antrag zu finden sind. Fraktionsübergreifende Initiativen sind nach wie vor eine parlamentarische Rarität. Sie kommen am ehesten zustande, wenn es um Fragen der Menschenrechte geht. Ich erinnere mich noch - das liegt schon einige Jahre zurück - an die Große Anfrage von weiblichen Abgeordneten. Es handelte sich hier um den internationalen Frauenhandel. Ich erinnere mich auch an die übergreifende Initiative zu dem Vorstoß, die genitale Verstümmelung schärfer zu ahnden.

Die Initiative, über die wir heute sprechen, verlangt für bestimmte Flüchtlingsgruppen aus Bosnien und Herzegowina und aus dem Kosovo bis auf weiteres das Bleiberecht in Deutschland. Das entspricht einer breiten Stimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Ich weiß aus der täglichen Praxis, wie viele solcher Bitten uns mündlich und schriftlich erreichen. Gerade Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina haben in Deutschland eine hohe Akzeptanz.

Es wird einige von Ihnen überraschen, wenn ich Ihnen sage: Die Bundesregierung fühlt sich durch diesen Antrag keineswegs auf die Armesünderbank gedrängt, sondern sie fühlt sich in mehreren Punkten bestätigt. Sie ist sich der Tatsache bewusst, dass bestimmte Personengruppen besonderen Schutz brauchen.

So sind zum Beispiel ethnische Minderheiten aus dem Kosovo nach wie vor von dem, was wir "zwangsweise Rückführung" nennen, ausgenommen. Das Bundesinnenministerium hat die zuständigen Landesbehörden schon vor einem halben Jahr ausdrücklich gebeten, die freiwillige Rückkehr dieser Menschen äußerst behutsam anzugehen. Ebenso setzt sich das Bundesinnenministerium dafür ein, dass Menschen, die als Zeugen vom Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien benannt worden sind, mit ihren Familien einen Aufenthaltstitel in Deutschland bekommen.

Minister Schily hat sich auch - das wurde schon erwähnt - für die schwer Traumatisierten, vor allem Frauen, und für ehemalige Lagerhäftlinge aus Bosnien-Herzegowina und aus dem Kosovo eingesetzt mit dem Ziel, dass die Behörden den gesetzlichen Rahmen voll ausschöpfen und von den auf drei Monate beschränkten Duldungen absehen, schon um diesen Menschen eine gründliche medizinische und psychotherapeutische Behandlung zu ermöglichen. Chronisch Traumatisierte sollen eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, so geht es aus dem Schreiben an die Innenminister und Senatoren der Länder hervor. Ich nutze die Gelegenheit, um die zuständigen Behörden ausdrücklich zu bitten, auch entsprechend zu verfahren. Sensibilität und der Wille, Ermessensspielräume wirklich und entschieden auszunutzen, sollten auch vor den Türen der örtlichen Ausländerämter nicht Halt machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch wer schon im Rentenalter ist und keine Angehörigen in Bosnien-Herzegowina hat, ist gegenwärtig ebenfalls von der Rückführung ausgenommen.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir im Dialog mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung über eine Lockerung des Arbeitsverbotes mit Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerber beraten und dass wir, so hoffe ich, in allernächster Zeit zu einer Lösung kommen werden, die den Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt ebenso gerecht wird wie den berechtigten Interessen der Betroffenen.

Das Prinzip Freiwilligkeit - hier unterscheiden wir uns vielleicht in Nuancen, Frau Kollegin Roth - hat sich bei der Rückkehr doch bewährt.Wer hätte schon vor zwei oder drei Jahren gedacht, dass sich von den fast 350 000 Flüchtlingen der allergrößte Anteil aus freien Stücken wieder in die Heimat begeben würde? Jetzt sind noch etwas mehr als 38 000 Menschen in Deutschland, die eigentlich ausreisen müssten. Ende des Jahres, so schätzt der UNHCR, werden es voraussichtlich noch 21 000 sein. Den entsprechenden politischen Willen der Länder vorausgesetzt, könnte zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Innenministerkonferenz eine Altfallregelung für diese Menschen vereinbart werden.

Ich muss genauso deutlich darauf hinweisen, dass wir nicht generell auf das Mittel der zwangsweisen Rückführung verzichten können. Außerdem haben wir es - das wissen alle, die den Antrag unterzeichnet haben - mit der Kompetenz der Länder zu tun. Ich möchte trotzdem klar unterstreichen: Die Bundesregierung versteht diesen Antrag als eindringlichen Appell vieler, die sich aus großer Verantwortung für das Schicksal der betroffenen Menschen zu Wort melden. Dass dieser Aufruf von so vielen Abgeordneten unterschiedlicher politischer Lager getragen wird, stellt unserer parlamentarischen Demokratie, glaube ich, ein gutes Zeugnis aus.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD, dem BüNDNIS 90/DIE GRüNEN und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag mit dem Titel "Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten", Drucksache 14/3729.

Wer stimmt für diesen Antrag?  - Gegenprobe! - Enthaltungen? -  Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.

(Beifall im ganzen Hause)


wplarre@bndlg.de  Mail senden

Homepage    | Inhaltsverzeichnis - Contents
 

Seite erstellt am 09.07.2000