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                      FLORA BROVINA
                     EIN VERLETZTER VOGEL BIN ICH
                             Flora Brovina in der kosova-albanischen Lyrik
                                                           von Hans-Joachim Lanksch


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EIN VERLETZTER VOGEL BIN ICH

Flora Brovina in der kosova-albanischen Lyrik

Die neueste Anthologie zeitgenössischer albanischer Lyrik  trägt den Untertitel »Das goldene halbe Jahrhundert«. Das Inhaltsverzeichnis nennt 29 Autorennamen der Geburtsjahrgänge 1918 bis 1963. Bezeichnend ist – von anderen Fragwürdigkeiten abgesehen, die hier nicht zur Debatte stehen – daß eine einzige Autorin für würdig befunden wurde, in diesen Kanon der »goldenen Zeit« der albanischen Lyrik aufgenommen zu werden . In der Tat wurde die Literaturszene sowohl in Albanien als auch in Kosova , den überwiegend albanisch besiedelten Teilen Makedoniens und den albanischen Siedlungen Süditaliens und Siziliens jahrzehntelang von der Männerwelt dominiert. Dies spiegelt zwar die realen Verhältnisse in der traditionell patriarchalischen albanischen Gesellschaft wider, nicht aber den Anteil der Autorinnen an der neueren albanischen Literatur.
Die albanische Literatur Kosovas ist erst einige Jahrzehnte alt, sie setzt mit der Entstehung von Titos Jugoslawien ein, davor ist patriotisches und religiöses Schrifttum zu verzeichnen. Nach ersten Anläufen in den 50-er Jahren und einer größeren Zahl von Erstlingswerken in den 60-er Jahren nimmt die albanische Literatur Kosovas in den 70-er Jahren einen stürmischen Aufschwung, erreicht und überschreitet ihren Höhepunkt in den 80-er Jahren, um in den 90-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dem Jahrzehnt massiver Repression durch das Miloševi?-Regime, weitgehend in die Belanglosigkeit der Pathetik nationaler und patriotischer Erbauungsliteratur abzugleiten.
Symptomatisch ist, daß die 1949 geborene Lyrikerin Flora Brovina 1973 debütiert, ihren zweiten Gedichtband 1979 und ihr drittes Buch 1995 publiziert. Ähnlich ausgedünnt sieht die Publikationsliste anderer Autorinnen in Kosova aus – Miradije Ramiqi (geb. 1953), Fehime Selimi (geb. 1954) und Edi Shukriu (geb. 1950), die zwar drei Bücher in den 80-er Jahren veröffentlicht, jedoch ebenfalls nur zwei in den 70-er Jahren, während andere Autorinnen überhaupt erst in den 90-er Jahren Buchveröffentlichungen aufzuweisen haben, so  Hida Halimi (geb. 1948), Sabile Keçmezi-Basha (1954), Fakete Rexha (geb. 1958). Eine Ausnahme bildet Qibrije Demiri (geb. 1957), die, wie die männlichen Schriftstellerkollegen, eine durchgehende Publikationsliste hat, allerdings auch an der Philosophischen Fakultät der Universität Prishtina gearbeitet hat, einer der Schaltstellen des kosova-albanischen Literaturbetriebs, der im übrigen von den Autoren beherrscht wurde, die ihr Brot in den Zeitungs- und Verlagsredaktionen und an sonstigen Arbeitsplätzen des institutionalisierten Kulturbetriebs wie Rundfunk und Fernsehen, Bibliotheken, Filmstudio und Theater verdienten.
Die Stunde der Autorinnen war in den 90-er Jahren gekommen. Allein in den ersten fünf Jahren des zurückliegenden Jahrzehnts erschienen über 20 Bücher kosova-albanischer Schriftstellerinnen, für dortige Verhältnisse eine hohe Zahl. Während sich die Mehrzahl der Autoren in der »Republik Kosova« des Schattenpräsidenten Ibrahim Rugova einer der Lieblingsbeschäftigungen der Männerwelt widmete, dem Gerangel um Macht, Positionen und Ansehen, und ihre Zeit und Energie darauf verwendete, sich in der durch politischen und weitgehend auch literarischen Stillstand gekennzeichneten Schattenrepublik in politische und publizistische Fehden zu verstricken, füllten kosova-albanische Autorinnen einen Teil der so entstandenen Lücke aus.
Zurück zur Blütezeit der albanischen Literatur Kosovas . Hatten die Anfänge noch unter dem Einfluß eines sozrealistischen Morgenrot-Pathos und jugendlichen Aufschwung-Elans im neuen, sich jugendlich gebenden und die Jugend hoffierenden Staatswesen Tito-Jugoslawiens gestanden, so setzte sich in den siebziger Jahren der bis zur Schroffheit wortkarge Kanon einer lapidaren Poesie durch, die von elliptischer Konzentration und symbolgespickter allegorischer Verschlüsselung bestimmt war. Dieser formale Kanon, der in Strukturen oraler Traditionen wurzelt und die kosova-albanische Literatur heute noch prägt, war zugleich wohl auch Ausdruck der politischen Ernüchterung angesichts der faktischen Lage der Albaner Kosovas, die im slawischen Reich Titos nicht als Nation anerkannt, sondern zur »Nationalität« degradiert worden waren. Diese Lyrik, in der Gedanken zu abstrakten Kürzeln reduziert und Gefühle zu Formelhaftigkeit kristallisiert oder versteinert waren, reflektierte in Textgestalt und Thematik die Isolation der Albaner in slawischer Umwelt und besang gleichsam mit zusammengebissenen Zähnen das stoische, als heroisch empfundene Ausharren der Albaner unter slawischer Herrschaft.
Mit ihren 1972 und 1973 erschienenen Gedichtbänden setzten zwei Autorinnen, Edi Shukri und Flora Brovina, denen später weitere Schriftstellerinnen folgten, dieser Literatur der Männer ihre Lyrik entgegen, einen weiblichen Gegenentwurf zur lakonischen, mit stilisiertem Heroismus gepanzerten Männerwelt. Blieb die Literatur dieser beiden und anderer kosova-albanischer Autorinnen auch der Ökonomie der dichterischen Mittel verpflichtet, so fand insbesondere Flora Brovina dennoch zu einem persönlichen, unvermittelten Ausdruck von Gefühlen. Aus ihren Gedichten sprach ein Ich und sprang Spontaneität. Sie schrieb nicht über nationale Anliegen, sondern über persönliche Befindlichkeiten. Im Zentrum ihrer Lyrik stand nicht das Kollektive, sondern das Individuelle, ihre Domäne war nicht ungerührte Objektivität, sondern mitempfindende Subjektivität. Waren die Schlüsselwörter der Lyrik der Männer Stein, Fels, Berg, Wolf, Schlange so ließen sich in Flora Brovinas Gedichten die Schlüsselwörter Pflanze, Wachsen und Sonne ausmachen. In die kosova-albanische Lyrik zog damit Atem, Leben und Wärme ein.
Flora Brovinas Generationsgenossin Edi Shukriu verstummt nach 1990 als Schriftstellerin und wandert ebenso wie die meisten ihrer männlichen Kollegen in die Politik und Rugovas Partei ab. Flora Brovina engagiert sich als Frauen- und Menschenrechtskämpferin, schreibt und publiziert jedoch weiterhin Lyrik. Die Literatur der Männer verflacht zusehends, die Könner schweigen zu einem großen Teil oder wiederholen sich selbst, die mittlere und jüngere Autorengeneration versucht sich in politischem und publizistischem Pluralismus. Die Literaturszene wird überschwemmt von der Eintönigkeit einer faden, sogenannten »vaterlandsliebenden« Verseschmiederei. In dem Jahrzehnt, in dem Miloševi? in Belgrad regiert und Rugova in Prishtina residiert, droht der Großteil der literarischen Produktion der Kosova-Albaner in provinzieller Bedeutungslosigkeit zu versinken. Alles, was in der Literatur weder Rang noch Namen hat, versucht sich in »Poesie« und erkauft sich deren Veröffentlichung durch die Eigenfinanzierung der Publikation. Einige wenige Autoren in Kosova veröffentlichen interessante Texte mit literarischer Substanz, stellvertretend seien hier Eqrem Basha, Mehmet Kraja, Nezir Sefaj, Musa Ramadani und Migjen Kelmendi genannt. Den Standard literarischer Qualität versuchen im übrigen auch einige im Ausland lebende Autoren aufrechtzuerhalten, so Shaip Beqiri, Valdet Berisha und Vaxhid Xhelili in der Schweiz, vor allem auch der in Deutschland lebende junge, gegen formale, mentale und emotionale Verkrustungen der kosova-albanischen Literatur heroisierender Lakonik anschreibende Beqë Cufaj. In die immer noch offene Lücke in der kosovarischen Literaturszene stoßen schreibende Frauen vor und erweitern das Spektrum dieser Literatur um ein erhebliches Maß an Emotionalität, um spezifisch weibliche Themen und um Bereiche, die in der Literatur der Männer nahezu tabu waren, wie Liebeslyrik, oder auch gänzlich unterdrückt und verdrängt waren, wie Körperlichkeit und Sexualität. Der diesbezügliche Nachholbedarf war offensichtlich beträchtlich und führte nicht selten zu einer Drastik, die man eher von der Feder rauher Männerhände erwarten würde.  Wieder schert Flora Brovina aus dem literarischen Mainstream aus, diesmal aus dem der weiblichen Schreibenden, und schreibt neben Gedichten, die in ihrer eigenen, zwanzig Jahre zuvor gestifteten Tradition stehen, explizit politische Lyrik, in der sie ihre tiefe Empörung über die unmenschlichen Mißstände, die das Miloševi?-Regime über Kosova hereinbrechen läßt, auf literarischem Niveau artikuliert. Dies hatten vor ihr auch männliche Schreibende bereits getan – Ali Podrimja auf eine unverblümt zupackende Art, die nach einer gewissen Zeit ungezügelt zu werden begann, Azem Shkreli wiederum auf eine mit verbissenem Grimm sich äußernde, eher zerebrale und verschlüsselte Art. Flora Brovinas politische Lyrik profiliert sich durch ihre unsentimentale, klare Stimme, ihre verknappte Textur und ihre offene, direkte Artikulationsweise.
Im Jahr 2000 sitzt Flora Brovina, am 20. April 1999 verhaftet und am 9. Dezember 1999 wegen »Terrorismus« zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, in einem serbischen Gefängnis. Sie hat nicht einmal Papier und Schreibgerät, um sich auf ihre Revisionsverhandlung vorzubereiten. Erst nach intensiven Protesten von außen bekommt sie Papier und Schreibstift, um ihre Gedanken für das Gerichtsverfahren niederlegen zu können. Draußen, in der Literaturszene Kosovas, haben die Männer wieder das Heft in die Hand genommen. Im Vordergrund stehen wiederum nationale Anliegen und eine albano-zentrische Sicht der Welt. Hatten am Beginn der Literatur des ehemaligen Tito-Jugoslawien Epopöen des Befreiungskampfes der kommunistischen Partisanen gestanden, so steht nach dem Ende von Titos Jugoslawien und nach der weitgehenden Zerstörung Kosovas am Anfang des »danach« wiederum die Glorifizierung des Befreiungskrieges. Kriegstagebücher und Erinnerungen von ehemaligen UÇK-Kämpfern haben Konjunktur.
Es ist kein Zufall, wenn am Ende des vergangenen Jahrhunderts ein Gedichtband die übrige literarische Produktion durch sein hohes Niveau weit überragt: Lumturia është mashtrim (»Glück ist eine Täuschung«). Darin wird dem Leser das unfaßbare Elend der sinnlosen Unterdrückung und Zerstörung Kosovas poetisch eindringlich und auf anspruchsvollem Niveau wie in den guten Zeiten dieser Literatur zu Herzen gebracht. Der Verfasser ist der große alte Mann der kosova-albanischen Lyrik, Din Mehmeti. Flora Brovina ist ihm in Freundschaft und Verehrung für seine singende statt buchstabierende Lyrik verbunden.

Hans-Joachim Lanksch



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Flora Brovina
von Hans-Joachim Lanksch
  • eine Auswahl ihrer Gedichte
  • eine kurze Biographie

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    Seite erstellt am 05.11.2000